Borderline

BORDERLINE-PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG NACH DSM IV

Ein tief greifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität prägen dieses Störungsbild. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

  1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.
    Erläuterung: Die Fähigkeit, allein sein zu können, ist von der inneren Sicherheit abhängig. Dabei spielt die Fähigkeit eine Rolle, die nicht anwesenden Personen „im Herzen zu tragen“. Häufig geschieht das mit Hilfe von Übergangsobjekten (etwa Bilder, Erinnerungen, Erwartungen). Gelingt die Ausbildung dieser „inneren Objekte“ nicht, stellt sich ein Gefühl der Einsamkeit ein.

  2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
    Erläuterung: Zwischenmenschliche Bindungen entwickeln sich im Spannungsfeld von Sicherheit und Entwicklung. Beziehungen folgen damit immer einer Dialektik, also einer Abfolge von Widersprüchen. Damit wird die Lebendigkeit der Bindung erhalten. Bindungen sind auch unterschiedlich intensiv, abhängig davon, welche Funktion diese Bindung hat. Die Kontinuität von Bindungen ist von der grundsätzlichen Akzeptanz der oben erwähnten Dialektik abhängig, denn in jeder Beziehung tauchen nach einiger Zeit Widersprüche und Störungen auf. Diese Störungen können dann nur durch „Verhandlungen“ aufgelöst werden, womit die Beziehung dann immer wieder neu definiert werden muss.

  3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
    Erläuterung: Die Identität bildet sich im jungen Erwachsenenalter aus und ist das Ergebnis von Suche und Entscheidung. Die Identität ist eng verbunden mit dem Selbstbild. Das Selbstbild setzt sich aus einer Stellungnahme (so bin ich) und einer Bezugnahme (im Verhältnis zu anderen) zusammen. Das Selbstbild ist ständigen Veränderungen unterworfen, wobei ein Gefühl der Sicherheit (Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen) Grundlage dafür ist, dass Entwicklungsschritte vollzogen werden können (Selbstfindung).

  4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Fressanfälle“ etc.). Beachte: Hier werden ebenfalls keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.
    Erläuterung: Die Seele produziert fortlaufend Impulse, von denen nur ein Teil mit Hilfe eines Motiv in sinnvolles Handeln umgesetzt werden kann. Andere Impulse müssen hingegen kontrolliert und sicherlich auch abgewehrt werden. Gelingt die Kontrolle nicht, dann können unnütze oder gar gefährlich Impulse nicht unterdrückt werden. Eine Impulskontrollstörung ist dann die Folge. Impulshandlungen haben eine große Chance, wieder aufzutreten, wenn mit der Handlung der Abbau innerer Spannung gelingt, etwa durch Substanzmissbrauch. Hier besteht die Gefahr, dass die Handlung damit »konditioniert« wird, also immer wahrscheinlicher wird und zunehmend eintritt.

  5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
    Erläuterung: Wiederholte Suizidgedanken und suizidale Handlungen sind ein großes Problem für Betroffene, zumal sich diese Gedanken häufig insbesondere in Stress-Situationen passiv aufdrängen. Sie heften sich dabei oft an innere Spannungszustände, wobei die Vorstellung entsteht, dass dieser Spannung nur durch den Suizid entgangen werden kann. Ähnliches gilt für das selbstverletzende Verhalten. Viele Betroffene berichten, dass allein dadurch die Reduktion innerer Spannungen gelingt. Dies kann dann fast den Charakter einer Sucht bekommen. Die Selbstverletzungen sind weniger mit dem Erleben von Schmerzen verbunden als vielmehr mit einem Gefühl der Erleichterung. Die Wirksamkeit des selbstverletzenden Verhaltens hängt stark mit der Ausschüttung körpereigener Morphine (die so genannten Endomorphine) zusammen.
    Ein Problem des selbstverletzenden Verhaltens ist das dabei entwickelte Schamgefühl, denn häufig treffen diese Verhaltensweisen bei den Betroffenen selbst, aber auch bei anderen auf Ablehnung. Das Schamgefühl kann dann zur Folge habe, dass die Konsequenzen verborgen werden. Die Verstärkung des Gefühls der Einsamkeit ist wiederum die Folge.

  6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.B. hochgradige episodische Dysphorie (Freudlosigkeit), Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).
    Erläuterung: Stimmungswechsel sind bei Menschen die Regel, wobei immer innere und äußere Bedingungen die Stimmung prägen. Instabiltät der Stimmung, insbesondere dann, wenn die Gründe für die Stimmungswechsel nicht erkennbar sind, führen jedoch zu einer weitreichen Verunsicherung.
    Beispiel: Welche Anzeichen der Störung nehmen Sie an sich wahr und wo?
    Vor allem im zwischenmenschlichen Bereich. Ich fühle mich schnell angegriffen, selbst bei Lapalien, und werde aggressiv. Ich habe kein Ziel für mein Leben und fühle mich oft so verzweifelt, dass ich lieber tot wäre. Habe so schlimme seelische Schmerzen, dass ich oft denke, ich kann nicht mehr. Will dann nur noch, dass es vorbeigeht und endlich aufhört, kann während der Zeit nicht normal funktionieren. Ich habe so viele Widersprüche in mir und so ambivalente Gefühle. dieses Chaos kann ich nicht beherrschen. Diese inneren Kämpfe sind schlimm.

  7. Chronische Gefühle von Leere.
    Erläuterung: Das Erleben resultiert immer aus inneren und äußeren Reizen. Ein Vehikel innerer Reize ist die Erinnerung, die ja im Grunde eine Form der Erzählung ist. Die Erinnerung ruft aber auch die Emotionen zurück, die mit der Erinnerung verbunden sind. Problematisch sind daher Erinnerungen, die mit negativen Gefühlen gekoppelt sind. Um sich davor zu schützen, schalten viele Betroffenen die inneren Reize aus und werden damit um so abhängiger von äußeren Reizen.

  8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z.B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
    Erläuterung: In der ICD-10 wird diese Form der Impulisivität als eigenständiges Problem gesehen. Emotionen spielen im Umgang mit anderen eine sehr große Rolle. Sie haben dabei den Charakter von Grundeinstellungen und Ergebniserwartungen. Sie helfen in der Regel dabei, auf Situationen angemessen und zielgerichtet zur reagieren, weil durch Emotionen Verhaltensprogramme aktiviert werden, die eine schnelle und sichere Reaktion ermöglichen. Angst beispielsweise signalisiert Gefahr, Wut Kampfbereitschaft etc. Emotionen sind aber nur dann hilfreich, wenn sie passen und angemessen sind, weil sonst erhebliche Störungen in den sozialen Beziehungen folgen.

  9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.
    Erläuterung: Die Borderline-Störung ist sicherlich keine Variante der paranoiden Psychose! Trotzdem treten im Rahmen dieser Störung gehäuft paranoide Symptome auf. Damit ist eine Wahrnehmung gemeint, bei der eine Vielzahl von Reizen der Umgebung in einer bestimmten Form auf die eigene Person bezogen werden. Einfache Formen solchen Denkens sind etwa Ideen wie „Alle haben etwas gegen mich“, „Ich werde von den anderen sehr kritisch beobachtet“ etc. Verstärken sich solche Befürchtungen, so können Ideen wachsen wie „Man sieht mir meine Störung an, die anderen wollen mir Übles oder verfolgen mich“ etc. Dissoziative Symptome sind mit Einschränkungen als Tagträume zu umschreiben. Dabei kann die Realitätskontrolle abhanden kommen.
    In der ICD-10 wird entgegen den Kriterien des DSM IV mehr die emotionale Instabilität in der Vordergrund geschoben. Der Oberbegriff lautet entsprechend auch „emotional instabile Persönlichkeit“. Hierunter wird dann ein Borderline-Typ von einem impulsiven Typ unterschieden. Letzteres markiert den Übergang zu anderen Formen der Instabilität, wie etwa Reizbarkeit, Verwicklung in aggressive Auseinandersetzungen, Neigung zu Impulsdurchbrüchen und Ähnliches.

Begleiterkrankungen
Die Borderline-Störung tritt sehr häufig im Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen auf, etwa Ess-Störungen, Depressionen, Störungen der Sexualität, Zwangs- und Ticstörungen, Suchterkrankungen etc. Diese Begleiterkrankungen sind gelegentlich Grund für die Suche nach Hilfe. Im Rahmen der Behandlung oder Psychotherapie wird dann die Borderline-Störung deutlich. Dabei können die Verknüpfungen vielfältig sein. Einige Störungen entstehen als Folge der Borderline-Störung (etwas depressive Symptome) oder sind als Bewältigungsversuche zu verstehen (etwa Ess-Störungen oder Substanzmittelmissbrauch), andere verstärken die Probleme der Borderline-Störung.

Weitere Symptome
Die diagnostischen Kriterien geben selbstverständlich nicht die Vielzahl der Symptome wieder, die im Rahmen einer Borderline-Störungen auftreten können. So sind beispielsweise die vielen körperlichen Beschwerden nicht benannt. Typisch ist das Gefühl innerer Hochspannung, die Unfähigkeit, sich zu entspannen, und das Gefühl, den eigenen Körper als fremd und unwirklich zu erleben. Dabei kann das Körpergefühl durchaus wechseln. Andere Symptome hängen mehr mit den emotionalen Problemen im Rahmen einer Borderline-Störung zusammen. So leiden viele unter Angstzuständen, immer wiederkehrenden depressiven Verstimmungen, Schuld-, Scham- und Ekelgefühlen, aber auch an der Unfähigkeit, der Situation angemessene Gefühle überhaupt wahrzunehmen.

Viele Symptome der Störung zeigen sich im Selbstbild. In der Regel zeigt sich ein mangelndes Selbstwertgefühl, die Betroffenen erleben sich als Versager und machen sich Vorwürfe. Aber auch das Denken ich ist spezifisch von der Störung geprägt. Auffällig ist die Neigung zum so genannten Schwarz-Weiß-Denken, die Tendenz zu entwerten und zum Pessimismus. Die vielen sozialen Probleme im Rahmen der Erkrankung können zu einem relativen sozialen Rückzug beitragen und die Abhängigkeit von wenigen sozialen Bezugspersonen erhöhen.

Gerade selbstschädigendes Verhalten bringt viele Betroffene schon früh in Kontakt mit der Polizei, mit der Medizin und Psychiatrie. Oft ist der Kontakt unfreiwillig und es fällt den meisten daher schwer, die angebotenen Hilfen anzunehmen. Auch der Missbrauch von Drogen und Alkohol kann die Situation zusätzlich belasten.